Grenzen überwinden

Ein Schülerprojekt zur Demokratiebildung in der Auseinandersetzung mit DDR-Geschichte – von Grit Hübener

Wie kann die Beschäftigung mit der DDR-Vergangenheit Demokratielernen fördern und Jugendliche im Umgang mit gesellschaftlichen Herausforderungen stärken?

In diesem Projekt wird der Blick auf das Trennende in der Geschichte mit einer Reflexion der Folgen dieser Vergangenheit und der Überwindung von Grenzen in der Wahrnehmung verbunden. Ausgangspunkt ist die Beschäftigung mit den Biographien von Erwachsenen, die über ihr Leben in der DDR erzählen. SchülerInnen fragen: „Wie war euer Leben im geteilten Land?“ Und sie stellen Bezüge zwischen Vergangenheit und Gegenwart her: „Wie gehen wir mit diesen unterschiedlichen Geschichten um, wo erleben wir heute Grenzen, wie überwinden wir sie und finden zu einem gleichwürdigen Miteinander?“

img_1181a.jpgProjektziele

Der subjekt- und handlungsorientierte Ansatz dieses Projektes soll zu einer Aktivierung und Stärkung der Selbstreflexionskompetenz beitragen und das Wissen über die deutsche Nachkriegsgeschichte vertiefen. Dabei wird die Vergangenheit der Zeitzeugen mit der gegenwärtigen Lebensrealität der Interviewenden in eine Beziehung zueinander gesetzt. Die Schüler sollen ein Bewusstsein dafür entwickeln, wie vergangene Erfahrungen unbewusst weiter wirken und nachfolgende Generationen, also auch ihre Eltern und sie selbst, in ihrem Denken und Handeln prägen können. Sie sollen erfahren, wie wichtig es ist, dass erlebtes Unrecht und Leid zur Sprache gebracht, also ins Bewusstsein geholt wird. Aber auch wie durch Leid ausgelöste Trennungen von Menschen („Opfer“ und „Täter“) überwunden werden können. Die Jugendlichen sollen eine Sprache für Gefühle und Bedürfnisse finden, die nicht urteilt und wertet, sondern Anteil nimmt am Leben des Anderen. Sie sollen ihren eigenen Aus-druck für einen respektvollen Umgang miteinander finden.

haeftlingstreffen_47a.jpgAnsatz

Im Vordergrund steht eine individuelle emotionale Aufarbeitung. Es geht um Gesprächsräume und -formen, in denen möglichst jeder Zeitzeuge seine Geschichte erzählen kann, ohne sich rechtfertigen oder argumentieren zu müssen. Es geht um vorurteilsfreies Zuhören. Das Interesse der SchülerInnen an den Erlebnissen der Zeitzeugen wird geweckt, indem sie erst einmal über sich, ihre Welt und ihre Probleme nachdenken. Indem sie lernen über Gefühle zu reden, Konflikte verstehen und durch Gespräche lösen lernen. Und indem sie auf die Suche nach Werten gehen, die ihnen helfen können, aktuelle oder künftige Krisen zu meistern. Die Auseinandersetzung mit den Interviews setzt ein vertieftes historisches Wissen voraus, das durch gezielte Recherchen und Materialien entwickelt wird.

Durchführung und Ergebnisse

Bisher fanden Projekttage und -wochen in mehreren Schulen in Mecklenburg-Vorpommern statt. Im Jahr 2010: Jahngymnasium Greifswald, Werkstattschule in Rostock (WiR), KGS Rövershagen und Lilienthal-Gymnasium Anklam. 2011: WiR, KGS Rövershagen und Lilienthal-Gymnasium Anklam. Aus der WiR nahmen Schüler zum zweiten Mal teil.

Angefertigt wurden sowohl Interview- als auch Reflexionstexte.
2011 wurde die Projektwoche in der Werkstattschule in Rostock durch ein Schüler-Filmteam unter der Leitung des Dokumentarfilmers Jörg Herrmann begleitet. Entstanden ist ein 25-minütiger Film. Diese DVD inkl. Bonusmaterial (Zeitzeugen-Interviews, Reflexionstexte, Fotos) ist gegen eine Schutzgebühr von 10 Euro bei Politische Memoriale e.V. erhältlich.
Präsentiert wurden Texte und Film auf dem Häftlingstreffen in Bützow.

Unterstützung

Projektträger: Politische Memoriale e.V. MV
Förderer: Landeszentrale für politische Bildung MV, Landesbeauftragte für MV für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehem. DDR, Ministerium für Soziales und Gesundheit in MV, ehemalige politische Häftlinge der Strafvollzugsanstalt Bützow

Projektleiter

Grit Hübener, Jahrgang 1973, war 16 Jahre lang als Journalistin bei Hörfunk, TV und Bildzeitung tätig. 2008 hat sie sich als Buchautorin und Lebensberaterin selbstständig gemacht. Sie begleitet Menschen bei der schriftlichen Aufarbeitung ihrer Lebensgeschichte. 2009 veröffentlichte sie das Buch „Grenzwege – Lebensgeschichten aus einem geteilten Land“ (Brendow Verlag). Seit 2009 leitet sie Schreibwerkstätten mit Jugendlichen, die über Zeitzeugeninterviews in eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, aber auch mit sich selbst führten.

Jörg Herrmann, Jahrgang 1963, studierte an der Universität Rostock Schiffstechnik und wechselte nach einigen Jahren in der Forschung in den Beruf des Filmemachers und Medienpädagogen. 1995/96 studierte er Videographik/ Videoproduktion am „institut für neue medien rostock“. Seit 1997 ist er als Autor und Regisseur nonfiktionaler Filmprojekte, hauptsächlich in den Bereichen Musik und Geschichte, tätig. Er drehte Filme über die ehemalige Untersuchungshaftanstalt am Schweriner Demmlerplatz, das Untersuchungsgefängnis Neustrelitz und das ehemalige Wehrmachtgefängnis Anklam. Außerdem war er an mehreren Filmprojekten zur Geschichte des Strafvollzuges in Bützow beteiligt.

Textbeispiele – Auszüge aus Reflexionen und Interviews

Laura G. und Telse S. (10. Klasse, Werkstattschule in Rostock) wurden mit Rachegefühlen eines ehemaligen „Opfers“ konfrontiert.
Laura G.: „Sven überraschte uns mit einer selbst gemachten DVD über seine gescheiterte Flucht, die U-Haft, die Ausreise in den Westen. Wir sahen seinen besten Freund, der ihn als IMB bespitzelt hatte. (…) Mir kamen sofort meine Freunde in den Sinn – was hätte ich eigentlich gemacht?! Wenn ich mir zum Beispiel vorstellen würde, dass Telse mich die ganze Zeit bespitzelt und ich vertraue ihr, dann könnte ich da bestimmt nicht so einfach drüber weggucken. Ich könnte, glaube ich, auch nicht mehr mit ihr reden, geschweige denn ihr einen Brief schreiben oder in Kontakt treten. Sven hat seinem Freund noch einen Brief geschrieben. Das fand ich wirklich sehr beeindruckend.“ 
Telse S.: „(…) Allerdings habe ich gemerkt, dass ich nach dem Interview ein wenig mit der Meinung von Sven auf die DDR geschaut habe. Für ihn war alles schlecht damals und nach-dem ich die Redaktion verließ, waren auch für mich nicht mehr so viele positive Seiten be-kannt. Ich finde es also sehr erstaunlich, wie schnell man sich von einer anderen Meinung beeinflussen lassen kann.“

Talessia H. (9. Klasse, Rövershagen) befragte ihren Stiefvater zu seiner gescheiterten Flucht und erfuhr, dass er während der Haft körperlich gefoltert wurde: „Ich sehe mein Stiefvater nun ein wenig anders, weiß warum er in bestimmten Situationen anders handelt. Ich glaube, er vertraut kaum jemandem, fühlt sich ständig verraten und glaubt nicht, dass jemand ihm etwas Gutes will, ohne gleich einen Gegenzug dafür zu verlangen.“

Anici D. (11. Klasse, Rostock) sprach mit Dr. Peter Uebachs, ehem. politischen Häftling: „Er war für die Mithäftlinge eine Hilfe, indem er ihnen ein offenes Ohr anbot und sie somit ein Stückchen von ihren Ängsten befreite, ihnen Worte schenkte, die sie aufatmen ließen. Wäre ich Häftling gewesen, so hätte ich darauf gehofft, jemanden wie ihn an meiner Seite zu ha-ben, um in haltlosen Momenten durch seine Worte gestützt zu werden. Reden, um Grenzen zu überwinden, ganz egal, ob es Gefängnismauern oder aber selbstaufgestellte Gefühlsschranken sind, ein zuhörendes, vertrauensvolles Ohr und ein ehrliches Wort vermögen es, so manche als steinhart geglaubte Grenze weicher zu machen. Auch wenn es also manchmal für mich nicht einfach ist, die passenden Worte zu finden, so sollte ich mir doch die Mühe machen, sie auszusprechen. Denn vertrauensvoller Umgang mit Worten vermag es, Grenzen zu überwinden. Wie man dieses Vertrauen erlangt? Vielleicht durch viel Übung, vielleicht auch durch Liebe oder aber durch Glauben, so wie es bei Dr. Uebachs der Fall war?…“

Telse S. (11. Klasse, Rostock) sprach mit Margarete Wegener, ehem. poli. Häftling: „Sie zeigte mir unter anderem, dass man sich auch an den kleinen Dingen sehr erfreuen kann, sei es auch nur ein Grashalm mit einem Tautropfen, in dem sich das Licht bricht. Dies bewegte mich sehr und ich habe mir seitdem vorgenommen, auch auf die kleineren Dinge im Alltag zu achten.“

Stephanie K. (9. Klasse, Rövershagen), befragte erst einen ehem. politischen Häftling und dann ihren Vater, der ihre folgenden Fragen beantwortete:
Wie hast Du das Leben in der Diktatur empfunden? Ich fand die DDR nicht als Diktatur sondern als Demokratie.
Warum? Weil die Diktatur Menschen unterdrückt und das machte die DDR nicht.
Also war es so wie heute? Es war besser.
Was gab es damals, was Du heute vermisst? Dass jeder seiner Arbeit nachgehen konnte. Dass jeder eine allgemeine Schulbildung hatte.
Warum lernen wir in der Schule, dass die DDR eine Diktatur war und viele Erwachsene erzählen aber; es war gar nicht schlimm? So schlimm war es auch nicht. Es wird übertrieben, dass die DDR schlimm war. Weil, wer seine Meinung sagen wollte, konnte sie sagen, solange sie eben nicht gegen den Staat oder die Partei ging. Und Diktatur heißt für mich ein Land, das einen Haufen politische Häftlinge festnimmt und irgendwo einsperrt. Die politischen Häftlinge waren da, es war aber nicht so schlimm wie in anderen Ländern.
Was denkst du über die Einheit von Deutschland 1990?  War meiner Meinung nach ein Fehler. Es ging alles zu schnell. Die hätten erst alles nach und nach machen sollen. Die wollten alles gleich so wie sie es vom Westen her kannten. Dadurch gingen so viele Betriebe kaputt. Deswegen haben so viele die Arbeit verloren. Am schlimmsten betroffen waren die in der LPG, das waren die Ersten, die Entlassungen gemacht haben. Wovon ich auch betroffen war.

Abschließend bilanzierte Stephanie K. ihre Erfahrungen im Projekt folgendermaßen: „(…) Ich weiß jetzt, dass jeder die DDR anders erlebt hat und deswegen kann ich nicht sagen, dass die DDR schlecht oder gut war. Ich hätte nie gedacht, dass es sowas gab wie Menschenrechtsverletzungen. Ich hoffe für mich und für die anderen Menschen, dass es so etwas nie wieder gibt.“